Örtliches Befremden
Museales scheint sich im Musealen – in den dafür geschaffenen Schauräumen und öffentlich sanktionierten Kontexten intellektualisierter Wissensbestätigung –
mitunteraufzuheben.
Selbsterfahrene Sehlust und individuelle Erkenntniserweiterungen dagegen vermitteln sich zunehmend in sogenannten Off-Spaces, die die Präsentation kultureller Phänomene bewusst an ungewohnt gewöhnlichen Orten vorsieht.
Diese Unorte sind in der Regel durch jahrelange Abnutzung, Zweckentfremdung ursprünglicher Funktionen oder topografische Verlagerungen aufgrund technologischer Entwicklungen aus dem Fokus allgemeiner Aufmerksamkeit verschwunden.
Das mittelalterliche Stadthaus wurde später
etwa Apotheke, Arztpraxis, Anderes – heute maroder Leerstand;
in den klassizistisch feudalen Repräsentationsräumen tummeln sich umgekehrt zwischenzeitlich Konferenzgäste, Hochzeitsgesellschaften und kunst-sinnige
Vernissagenbesucher; und wo es einst den Adel noch nach standesübergreifenden Schäferstündchen im Grünen gelüstete, fliegen heutzutage neongelbe Frisbees
über den gepflegten englischen Rasen:
Times They
Are A-Changing1.
Allerhand spielerische Denkverstöße und andere interdisziplinäre Sinn-Carambolagen sind aber längst nicht mehr nur ehedem exklusiven Kreisen vorbehalten, sondern werden
inzwischen von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern in unterschiedlichsten Materialien und auf vielfältige Weisen in der je charakteristischs Bewusstsein nämlich unmittelbarer auf die
Arbeiten selbst, wie dieselben im Umkehrschluss die autonomeeigenen art-gerechten Haltung entwickelt.
In Kenntnis des Umstandes aber, dass für einen Großteil der Öffentlichkeit museal aufbereitete Gegenwartskunst vermeintlich ganz im Abseits der Lebenswirklichkeit ihrer
Rezipienten steht, erweitern innovative Bildagenten diese Kunstgerechtigkeit auf ebenjene Anders-Orte und Off-Spaces.
Unter schleuniger Umgehung der Drehkreuze von White-Cube-Architekturen wie der mit Seidenschals und Küsse-Memorys verstopften Museumsläden, die uns im einschlägig verbreiteten Vorfeld bildungsbürgerlicher Pflichtübungen zu beglücken drohen, suchen sie gerade nicht ein historisch und stilistisch steril bereinigtes Umfeld als bloße Abstell- und Hängeflächen für ihre Arbeiten.
Mit ortsbezogenen Bildkonzepten unternehmen sie vielmehr spezifische Raumbefragungen und intensive Zeitrecherchen, die sich sowohl mit persönlicher Biografie vergangener Existenz(en) wie auch mit gesamtgesellschaftlichen Fragen auseinandersetzen wollen.
Dass Galerie- und Museumsdarbietungen aktueller Kunst häufig genug den Alltagsrealitäten entfernt stehen und damit keine eigentlichen Lebensorte mehr zu repräsentieren wissen, mag auch die gegenwärtige Faszination privater Sammlungen erklären, die die persönliche –und damit lebenswichtige – Identifikation ihrer Gründer und Bewahrer mit den ihnen so ganz eigen angeeigneten Artefakten nachvollziehbar erkennen lassen.
Das Befremden örtlicher Gegebenheiten – vermittels bildnerischer Arbeiten – führt in der Folge zur Aneignung des scheinbar Fremden.
Dem Kokon selbstreflexiver Kunsthaltigkeit gänzlich entsponnen entziehen sie sich damit den Prinzipien einer sattsam nachgebeteten l’art pour l’art,
die als optisch-visuell dekoratives Beruhigungsmittel einem auf ausschließlich ökonomisches Funktionieren ausgerichteten Lebensalltag – und demselben
vollständig nach- und untergeordnet – zur Genesung an der Wirklichkeit in homöopathischen Dosen verordnet würde.
Dabei liegt doch ausgerechnet hier der Gedanke besonders nahe, dass tatsächlich Ähnliches mit Ähnlichem (Wirkliches mit Wirklichem) wirksam zu heilen sei.
Nicht nur die ausgestellten Werke verweigern sich so den oft gescholtenen Sehgewohnheiten erzieherischer Verbildung und medialer Vorprägung,
die Orte selbst behaupten ihre Widerständigkeit. In gegenseitiger Verstärkung
lenkt das Befremden das Bewusstsein nähmlich unmittelbar auf die Arbeiten selbst, wie dieselben im Umkehrschluss die autonome Geschichtlichkeit ihrer Umgebungsräume
selbstverständlich anerkennen und beide dennoch gleichermaßen in dialogische Beziehungen miteinander eintreten.
Der in den bekannten virtuellen Netzen fortschreitenden Entindividualisierung entgegengesetzt, entstehen zwangsläufig Bilder, Objekte,Installationen,die einerseits offensichtlich
individuell biografischer Natur sind, wie sie andererseits auch –
ein ungewöhnliches, allgemein politisches Engagementbeanspruchend
– existenzielle Fragen nach der Selbstbestimmung des Einzelwesens in der Gemeinschaft aufwerfen.
In unbefriedigter Erwartung routiniert geglaubter Wahrnehmungenalso,
Bekanntes zu erkennen und Unscheinbares rasch vernachlässigen zu können,
steigt die besagte Sehlust nur.
Ganz verschiedenartige Materialübertragungen, augenscheinlich Vorgetäuschtes, Kurzschlüsse zwischen Sinn und Sinnlichkeit, in weiche Zeichnungshöhlen eingebettet oder aber massenhaft umwölkt voll scharf gebügelter Himmel:
falls der Fetisch Wirklichkeit vor lauter Virtualisierung unverhofft je doch abhanden gekommen sein sollte, sind dringend ungewöhnlich gewohnte Fetische vonnöten.
Not macht erfinderisch;
Kunst auch.
– And Keep Your Eyes Wide, The Chance
Won’t Come Again, And Don’t Speak Too Soon1 ...
Und haltet die Augen auf, die Gelegenheit kommt nicht wieder,
und urteilt nicht zu schnell!
Clemens Ottnad
1 Bob Dylan, The Times They Are A-Changing,
Columbia Records 1964